Ziel des vorliegenden literaturwissenschaftlichen Beitrags, der Erhart Kästners „Zeltbuch von Tumilat" (1949), wo es sich um einen zweijährigen Aufenthalt von deutschen Kriegsgefangenen in einem britischen Zeltlager in der ägyptischen Wüste infolge des II-Weltkriegs handelt, zum Gegenstand nimmt, ist es, die multiplen Funktionen des Wüstenmotivs aufzudecken. Anhand dreier Forschungsansätze: der Archetypentheorie, der Symboltheorie und der Literarischen Anthropologie zeigten sich verschiedene Varianten der Wüstenwahrnehmung im untersuchten Roman auf, die sich auf philosophische, theologische sowie ästhetische Konzepte stützen. Hierdurch offenbart sich eine komplexe Tiefenstruktur des Wüstenmotivs, die in eine Multifunktionalität mündet. Die symbolische Auffassung der Wüste im „Zeltbuch von Tumilat" u.a. als Ort des Gestorbenseins, der Heiterkeit, der Gottesnähe, der Heimatsuchung etc. verbindet einerseits den Roman mit relevaten Wüstentexten, in denen der Wüste dieselben Funktionen zukommen; andererseits implizieren die verschiedenen fiktionalisierten Wüstenbilder im Roman den Einfluss der spezifischen Erfahrung des II. Weltkriegs auf die individuelle Wüstenwahrnehmung der Kriegsgefangenen. Die Verwandlung der Wüste in Symbole, die sich im Grunde auf Merkmale, Erlebnisse und Erfahrungen in der Heimat vor, während und nach dem Krieg beziehen, ist als Reaktion der Kriegsüberlebenden auf das Kriegsgeschehnis zu verstehen. Erst durch ihren Wüstenaufenthalt gewinnen die deutschen Kriegsgefangenen eine bessere Einsicht in ihre innere und äußere Welt. In diesem Kontext steht der modernen Wirklichkeit Europas, die den Krieg hervorbrachte, die orientalische Wüste als Gegenpol gegenüber. Dort werden die Kriegsüberlebenden wiedergeboren; und dadurch weitet sich das Traditionsgefüge des Wüstenmotivs durch den ausgewählten Roman um eine neue Funktion aus, die den individuellen Einfluss von Erhart Kästner als ehemaligem Kriegsgefangenem in der ägyptischen Wüste ans Licht bringt..